31.03.2018 Unkontrolliertes Versagen verhindern
Neues Analysekonzept für die Klebstoffselektion
Klebverbindungen versagen aus den unterschiedlichsten Gründen, weshalb oft – aufgrund fehlender Erfahrungswerte und valider Daten – mit Reserven gearbeitet wird. Diese zu minimieren bzw. zu eliminieren, ist ein Ziel der bruchanalytischen Bewertung von Klebverbindungen.
Moderne Fügeverfahren sind aus dem täglichen Leben nicht mehr wegzudenken. Vor allem das Kleben hat sich als herausragende Verbindungstechnologie einen Spitzenplatz erarbeitet. Hinsichtlich der immer mehr um sich greifenden Leichtbauphilosophie und des Einsatzes neuer innovativer Materialien ist die optimale Ausnutzung von Werkstoffen unter Berücksichtigung der Kosten eine fest verankerte Philosophie im Engineering. Die intelligente Kombination unterschiedlicher Werkstoffgruppen, wie z.B. Holz, Keramik, Kunststoffen und Metallen ermöglicht es, immer neuere Anwendungen im Bereich der Medizintechnik, in Luft- und Raumfahrt und Automobilbau zu erschließen.
Der rasante Vormarsch von Verbundsystemen stellt an Klebstoffe immense Anforderungen an Qualität, Zuverlässigkeit und Lebensdauer, Kriterien die sich in der Praxis bewähren müssen. Noch dazu verlangt die Forderung von Wirtschaftlichkeit und Effizienz seitens des Marktes eine möglichst maximale Ausnutzung und Ausreizung des Bauteils bis hin zur Einsatzgrenze oder darüber hinaus. Dieses „Ausreizen“ erfordert das „Erfassen und Verstehen“ der Entfestigungsvorgänge innerhalb der Grenzschicht (Klebeschicht), wo am ehesten mit einem Versagen zu rechnen ist.
Künftig müssen Werkstoffverbunde auch in der Lage sein, unter einer bereits auftretenden Vorschädigung sowie bei der Existenz von Rissen in der Klebeschicht, ausreichend hohe Restkapazitäten besitzen, um ein schlagartiges und unkontrolliertes Versagen zu verhindern. Das „Fail-Safe-Prinzip“ – also „sicheres Versagen“– ist eine Doktrin, die bereits in der Entwicklung und Klebstoffselektion berücksichtigt werden muss und welche von den Märkten immer mehr gefordert wird.
Es fehlt an verlässlichen Bewertungsmethoden
Ein Blick in die Industriepraxis zeigt, dass aussagekräftige Bewertungsmethoden über das Versagensverhalten von Klebstoffverbunden seitens der Klebstoffhersteller nicht vorliegen. Selbst in der Forschung reichen die aktuellen Verfahren zur Charakterisierung von Klebstoffverbunden bei weitem nicht aus, um klare Aussagen über das reale Entfestigungsverhalten einer Klebeverbindung zu treffen. Aufgrund der doch recht komplexen Vorgänge in einer Grenzschicht während des Rissfortschrittes werden oft starke Vereinfachungen vorgenommen (z.B. Annahme von linear-elastischem Verhalten), was korrekterweise nicht zulässig ist. Dies führt in den meisten Fällen zur falschen Wahl des Klebstoffes und zu großer Unsicherheit beim Bemessen einer Klebeverbindung. Oftmals werden diese Unsicherheiten durch eine Überdimensionierung der Bauteile „erkauft“. In Zeiten des Leichtbaus und der immer stärkeren Ausreizung von Werkstoffen bis hin zu ihren Einsatzgrenzen ist diese Philosophie nicht mehr zeitgemäß. Doch dieses gravierende Manko erschließt gleichzeitig auch immenses Potenzial für künftige Bewertungsstandards. Die neue Bewertungsmethode bietet eine Lösung hinsichtlich verschiedener Problemstellungen in der Praxis:
• Produktdatenblätter von Klebstoffherstellern enthalten ausschließlich chemisch-mechanische Grundeigenschaften unter Laborbedingungen. Eine vollständige Erfassung des lokalen Materialgesetzes im Interface wird nicht durchgeführt. Entfestigungsvorgänge lassen sich somit weder charakterisieren noch ausreichend prognostizieren.
• Branchenübliche Normtests für Klebstoffe begnügen sich nur mit einfachen Klebefestigkeiten als Gütekriterium einer Verbindung (z.B. ISO 15509:2001, EN 14293:2006). Leider stellen diese keinerlei Bezug zum Ablöseverhalten einer Grenzschicht dar, noch erklären diese das Rissverhalten im Verbund.
• Einfache klassische Berechnungsmethoden wie auch vereinfachte Modellannahmen (linear-elastisches Verhalten) lassen sich bei geklebten Verbundsystemen unterschiedlicher Materialien aufgrund der Komplexität nicht mehr anwenden. Ebenso wird oftmals in der FEM-Simulation auf bereits „fertige Materialdaten“ zurückgegriffen, die jedoch nichts mit dem tatsächlichen Entfestigungsgesetz zu tun haben.
Der neue Ansatz
Der Schlüssel zum neuen Evaluierungskonzept liegt daher in der Vielfalt von qualitativen Güteparametern, mit welchen sich das Riss- und Versagensverhalten einer Klebeverbindung hinreichend genau beschreiben lässt und mit welchen sich das Risiko des Klebstoffes einordnen lässt. Als Hauptbeurteilungsgrößen zum Beurteilen von Versagensvorgängen dienen z.B.:
• Risswiderstand,
• Bruchzähigkeit,
• Schädigungsdominanz je Belastungsart,
• Schädigungstoleranz bis zum Totalversagen sowie
• Schädigungsdynamik, d.h. eine stabile bzw. instabile Rissausbreitungsneigung.
Diese Kennwerte sind nur ein Auszug der möglichen Kennzahlen, mit denen sich ein Klebstoffverbund qualitativ bewerten lässt. Erst durch experimentelle Bestimmung dieser Kennwerte lassen sich Daten ermitteln, welche als „bruchmechanische DNA“ bezeichnet werden können und die als unabhängige Werkstoffkenngrößen dienen können. Der große Vorteil dieses Ansatzes im Vergleich zu genormten Standardprüfverfahren, wie z.B. dem Haftzugtest, ist die Übertragbarkeit dieser Messdaten auf reale Bauteile, wogegen jene Daten von Haftzugtests nur auf Prüfkörper im Labor begrenzt sind. Gerade in der FEM-Simulation ist dies eine Notwendigkeit.
Breites Einsatzspektrum
Aus diesem Ansatz ergeben sich verschiedene praktische Einsatzmöglichkeiten:
• Aufbau eines QS-Systems auf Basis der Bruchanalytik zur laufenden Kontrolle von Stichproben in der Serienproduktion. Dadurch können konkrete Ausscheidungskriterien und Standards festgelegt werden, mit denen es möglich ist, eine gleichbleibende Qualität und Minimierung von Risikofaktoren zu gewährleisten. Ziel eines solchen Systems ist die merkliche Senkung von Ausschussraten im laufenden Betrieb und somit der Reklamations- und Instandhaltungskosten. Es lässt sich einfach in bestehende Prozessketten integrieren.
• Mit dem Ausreizen des Klebstoffes auf Basis der Bruchanalytik kann das Versagensrisiko qualitativ und quantitativ erfasst werden und durch die Wahl des optimalen Klebstoffes minimiert werden. Es lassen sich ausgezeichnete Materialdaten für numerische Simulationen (FEM) generieren und die daraus gewonnenen Erkenntnisse auf reale Strukturklebungen abseits der Laborumgebung übertragen.
• Aufbau eines Rating- & Rankingsystems für die Klebstoffselektion – durch die experimentelle Bestimmung der Entfestigungsvorgänge in der Grenzschicht lassen sich hochqualitative Güteparameter ermitteln, welche eine effiziente Selektion des Zielklebers gestatten. Der Anwender ist dann nicht mehr nur auf Produktdatenblätter von Herstellern und vorgeschriebenen Kennwerten aus Normtests angewiesen. Diese Unabhängigkeit erlaubt es einerseits, die Qualität des Klebeverbundes selbst festzulegen, wie auch das Versagensrisiko zu minimieren. Durch höhere Test- und Auswerteanforderungen seitens der Bruchanalytik ist es möglich, höhere Klebegüten zu erreichen.
Fakten für Konstrukteure
• Das Ausreizen eines Klebstoffes auf Basis der Bruchanalytik erlaubt Konstruktionen ohne unnötige Reserven – in Zeiten der Gewichtsoptimierung ein zentrales Thema
Fakten für Einkäufer
• Die richtige Bemessung von Klebstoffen bietet teilweise beachtliche Einsparungspotenziale
Fakten für Qualitätsmanager
• Ein QS-System bzw. ein Rating- und Rankingsystem auf Basis dieses Ansatzes ermöglicht höhere Klebgüten und damit bessere Produkte
• Die Abhängigkeit von teilweise wenig aussagekräftigen Informationen seitens der Lieferanten nimmt ab
Unter diesem Link und ab S. 54 ist das Verfahren in Grundzügen in einer Fallstudie erläutert