25.03.2020 Was ist ein Experte?
Früher war man vielfach stolz darauf, dass man ein Allrounder, ein Alleskönner, war.
Im Wandel der Zeit hat sich gezeigt, dass durch die Wissensflut es nahezu unmöglich ist, alles zu können und so wurde immer mehr der Experte gesucht und gefordert. Auch wir nennen uns oft Experten, aber was ist unsere Expertise und reicht diese wirklich zur Lösung anstehender fachlicher Probleme? Von Experten erwartet man, dass sie die für die jeweilige Thematik fachlich optimale Lösung erarbeiten, dabei ganzheitlich alle relevanten Faktoren berücksichtigen und dann über die entsprechenden Skills verfügen, die Lösung in der Praxis zu realisieren. Ob Experten einzeln oder im Team agieren, ist an diesem Punkt zweitrangig.
Die Weihnachtslektüre „Factfullness“ von Hans Rosling mit seinen Blickwinkeln war Anlass für mich, über dieses Thema intensiver nachzudenken. Interessant ist der Ausgangspunkt, von dem aus sich Experten einem Thema nähern, und das eigene Wissen um die Grenzen ihrer Expertise. Die Redensart „Gib einem Kind einen Hammer, dann sieht alles wie ein Nagel aus“, verdeutlicht ein Dilemma. Auf der letzten Klimakonferenz von Madrid und ihren kaum erwähnenswerten Ergebnissen konnte man deutlich sehen, dass Experten aus Entwicklungs-, Schwellenländern und Industrienationen das Thema des globalen Umweltschutzes unterschiedlich bewerten. Es ist auch nachvollziehbar, dass Entscheider aus Entwicklungsländern erst darauf schauen, wie sie ihre Bevölkerung ernähren, die medizinische Versorgung sicherstellen bzw. den Wohlstand steigern, bevor sie sich über komplexe Umweltschutzlösungen Gedanken machen. Ein Experte sollte also auch die Standpunkte anderer verstehen und diese in seinem Ansatz berücksichtigen. Die Realität sieht allerdings oft anders aus. Da lehnen sich Experten mit ihrer Sichtweise und ihrem Kenntnisstand weit aus dem Fenster und „beraten“ außerhalb ihrer Expertise. Weder vertieftes Fachwissen noch ein ausgefeilter ganzheitlicher Ansatz schützen vor falscher Expertise, wenn nicht versucht wurde, auf Basis aller relevanten Parameter den richtigen „Ausgangspunkt“ zu finden. Klassische Skills, wie hohe Bildung, vertieftes Fachwissen, Erfahrung, hohes Statistik-Know-how, soziale Kompetenz – die Liste kann jeder beliebig fortsetzen – die Experten zugeschrieben werden, sind dann keine Garanten für optimale Lösungswege.
In der Welt der Dichtungen, Klebstoffe und Polymere wissen wir, dass viele Aufgabenstellungen nur dann sachgerecht gelöst werden können, wenn wir systemisch, ganzheitlich, mit Fachwissen, Erfahrung und ggf. dem Mut, Neuland zu betreten, vorgehen. Früher war die Frage nach Druck, Temperatur und Medium zumeist ausreichend, um eine sachgerechte Lösung bieten zu können. Heute ist der Fragenkatolog deutlich länger. Werkstoffkombinationen, Montage-, Umgebungseinflüsse, Designvorgaben, zu erfüllende Normen, Umweltaspekte etc. sind nur einige weitere Aspekte. Hier kommen dann Expertise und Sichtweise von Experten ins Spiel und vermischen sich oft. Ob eine Dichtstelle besser mit einem Formteil oder mit einer Flüssigdichtung oder klebend abgedichtet werden soll, ist selten Ausgangspunkt einer Betrachtung. Oft sind Experten in der Praxis mit Anfragen konfrontiert, in denen vom Einkauf Mengen, kaufmännische Anforderungen, Zeichnungen mit Teilegeometrien,
Fertigungstoleranzen, Werkstoffen, zu berücksichtigende Normen, Einsatzbedingungen etc. nur unzureichend ausgeführt sind. Rückfragen, wo das Bauteil eingesetzt, wie es verbaut wird, welchen weiteren Einflüssen es ausgesetzt ist, kann vom Einkauf meist nicht fachkundig beantwortet werden. Der Kontakt mit den Konstruktions- und Entwicklungsabteilungen liefert zwar i.d.R. mehr Informationen, aber nicht immer Fakten. Es ist nachvollziehbar, dass nicht alle Fragen zufriedenstellend beantwortet werden können, denn zumeist sind die K+E-Mitarbeiter keine Experten im Bereich der Dichtungs- und Klebtechnik. Bedingt durch die zunehmende Ausbildung zu Fachexperten in eng begrenzten Bereichen, sind heute die Bildung von Expertenteams zur Lösung technischer Aufgaben unabdingbar. Die Herausforderung besteht also darin, ein Netzwerk von Experten zu kennen, das mithilfe verschiedener Spezialisten in der Lage ist, eine allumfassende, systemische optimierte Lösung zu erarbeiten, wohl wissend, dass diese nicht für alle Ewigkeit Gültigkeit hat, da die dynamische Entwicklung, z.B. neuer Werkstoffe, das Lösungsspektrum fortlaufend erweitert.
„Ein Experte ist für mich jemand, der neben seiner fachlichen Expertise seine Grenzen kennt, sie in Teams einbringen kann und dabei offen für andere Sichtweisen ist.“ Karl-Friedrich Berger, Gesellschafter, ISGATEC GmbH