29.09.2017 Umgang mit Normen
Stand der Technik – Teil 1
Es gibt bei Dichtungen technische Mittel und Wege, die auf den ersten Blick anscheinend die Lösung für ein Problem bieten. Auf den zweiten Blick und genauer betrachtet werden systembedingte Grenzen deutlich – und Probleme in der Praxis sind dann eigentlich vorprogrammiert. Allerdings sind bei jeder Lösungen auch immer der Stand der Technik zu berücksichtigen. Das führt hier zu der Frage, wie wir mit Normen umgehen?
Immer wieder fällt es bei Tagungen, Seminaren und selbst in Normensitzungen auf, dass der Status einer Norm und die Beziehung verschiedener Regelungen zueinander nicht klar sind. Sehr häufig wird davon ausgegangen, dass eine Norm rechtsverbindlich ist und umgesetzt werden muss. Diese Einstellung hält sich hartnäckig. Ein Beispiel: Im Juni 2012 ist die VDI 2290 erschienen. Seit diesem Zeitpunkt wird von einigen Marktteilnehmern behauptet, dass sie umgesetzt werden muss, um die Anforderungen Industrieemissions-Richtlinie 2010/75/EU (IE-RL), des Bundesimmissionsschutzgesetzes (BImSchG) und der TA Luft zu erfüllen. Dies ist so nicht richtig, denn die Ausführungen der VDI 2290 zur maximal zulässigen Leckagerate führen nicht unbedingt zur Umsetzung des geforderten Minimierungsgebotes und somit zur Reduzierung oder Vermeidung schädlicher Emissionen. Bis zum heutigen Tage gelten die Forderungen der TA Luft und damit die Qualifizierung der Dichtungen nach der VDI 2440. Eine allgemeine Umsetzung der VDI 2290 ist allein deshalb nicht möglich, weil die geforderten Flanschberechnungen nicht alle Dichtverbindungen erfassen. Auch liegt die maximal zulässige Leckagerate bei gleichen Bedingungen um den Faktor 620 höher als die geforderte Mindestdichtheit zur Zulassung einer Dichtung nach der TA Luft. Damit entspricht sie nicht dem Stand der Technik und die Anwendung kann zu einem Gesetzesverstoß führen [1].
Ähnlich verhält es sich mit der DIN EN 1591-4 zur Qualifizierung des Montagepersonals. Auch hier wird suggeriert, dass diese Norm umgesetzt werden muss. Ein gutes Argument für die Vermarktung von Schulungen. Auch das ist nicht richtig, denn die Anwendung dieser Norm führt nicht sicher zur Umsetzung des Standes der Technik. Sie ist eine Erkenntnisquelle, deckt sich aber nicht unbedingt mit den Anforderungen an das Montagepersonal aus der Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV) [2]. Auch hier sollte man sich immer im Klaren sein, für den Inhalt der Schulungen ist der Betreiber verantwortlich.
Welche Verbindlichkeit ergibt sich also für Normen? Anerkannte Regeln der Technik sind z.B. Normen (DIN, EN, ASME, ISO, etc), VDI-Richtlinien, DVGW-Regelwerk, AD 2000-Regelwerk. Sie sind anerkannte, dokumentierte Festlegungen, in denen eine Mehrheit repräsentativer Fachleute den Stand der Technik wiedergeben sollen. Aufgrund der fortschreitenden technischen Entwicklung entsprechen sie dem Stand der Technik aber „naturgemäß“ maximal zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung. Sind sie vereinbart, kann eine Nichteinhaltung zu rechtlichen Konsequenzen, bei Gefährdung von Leib und Leben sogar zu Geld- oder Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren führen.
Der Stand der Technik ist im Handbuch der Rechtsförmlichkeit ganz klar definiert: „Stand der Technik ist der Entwicklungsstand fortschrittlicher Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen, der die praktische Eignung einer Maßnahme zur Erreichung des vorgegebenen Schutzzieles als gesichert erscheinen lässt. Bei der Bestimmung des Standes der Technik sind insbesondere vergleichbare Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen heranzuziehen, die mit Erfolg im Betrieb erprobt worden sind.“ Stand der Technik kennzeichnet den Zustand des jeweiligen technischen Entwicklungsstandes. Normen entsprechen also nicht automatisch dem Stand der Technik. So sagt ein BGH-Urteil vom Mai 1998: Zitat: „DIN-Normen können die anerkannten Regeln der Technik wiedergeben oder hinter ihnen zurückbleiben.“ Auch das Deutsche Institut für Normung (DIN) gibt auf seiner Homepage wichtige Hinweise [3]: So hat der Anwender einer Norm demnach folgenden grundsätzlichen Hinweis zu beachten: Jeder deliktfähige Mensch hat sein Handeln (Tun und Unterlassen) selbst zu verantworten. Der Anwender einer DIN-Norm ist davon nicht ausgenommen. Daher wird er beim Anwenden einer DIN-Norm insbesondere beachten müssen, dass
- er das für das richtige Anwenden der Norm erforderliche Verständnis besitzt,
- die Norm nicht die einzige, sondern nur eine Erkenntnisquelle für technisch ordnungsgemäßes Verhalten im Regelfall ist,
- die Regeln für das Aufstellen der DIN-Normen zwar das Berücksichtigen des Standes der Technik verlangen, diese Forderung aber schon wegen der fortwährenden Weiterentwicklung in der Technik äußerst schwer zu realisieren ist,
- das Ergebnis einer Gemeinschaftsarbeit sich nicht für das Befriedigen von Höchstansprüchen eignet,
- sich das Anwenden der Norm wider besseres eigenes Wissen verbietet,
- die Einhaltung von Normen gute Anhaltspunkte für sorgfältiges/verkehrssicheres Verhalten gibt [4].
Man muss also nach einer Gefährdungsanalyse für Mensch und Umwelt von den inhaltlichen Ausführungen von Normen ggf. abweichen. In der Praxis ist es immer wieder irritierend festzustellen, dass sich häufig an der zulässigen Obergrenze für schädliche Emissionen orientiert wird, anstatt das gesetzlich geforderte Minimierungsgebot einzuhalten. Dabei bringt doch die konsequente Umsetzung des Standes der Technik Verbesserungen im Umweltschutz, bei der Anlagenverfügbarkeit, der Unfallverhütung und bei der Kostenreduzierung.
Literatur
[1] http://www.flangevalid.com/uploads/dichtungen/Dichtungsauswahl_zur_Erfllung_der_DGRL_und_des_BImSchG_-_TA-Luft.pdf
[2] http://www.flangevalid.com/uploads/montage/PersonalNachDINEN15914FuerAnlagenbetreiberUndDruckgeraetehersteller_LT434.pdf
[3] http://www.din.de/blob/76670/453c5347866dd98dd4ece87381d8a933/grundsaetze-fuer-das-anwenden-von-din-normen-data.pdf
[4] (EG-Kommission, Anwenderleitfaden Maschinenrichtlinie 2006/42. 2. Aufl. 2010, §162).