09.09.2021 Muss es immer „mehr“ sein?
Vor Corona haben viele gewarnt. Während und auch „nach“ Corona zeigt sich die Verletzlichkeit unserer derzeitigen Wirtschaftsstruktur.
Wir erleben, dass unsere weltweiten Lieferketten fragil sind und bestimmte – plötzlich wichtige – Produkte nicht mehr „in der Nähe“ hergestellt werden. Impfstoffe sind ein gutes Beispiel: Wir mussten in Deutschland erst wieder Produktionsstätten aufbauen und im Frühsommer fehlten dann teils Rohstoffe aus den USA. Die meisten Halbleiter kommen derzeit aus Asien. Der Mangel daran, erschwert oder verhindert derzeit die Produktion in vielen Branchen. Da reicht auch schon ein Schiff, das im Suezkanal quer lag, um in wichtigen Logistikprozessen und Häfen Chaos zu verursachen. Aber zurück zu elektronischen Komponenten wie Chips und Halbleitern – um heute Fahrzeuge, elektronische Produkte, Maschinen etc. ausliefern zu können, ist ihre Verfügbarkeit Voraussetzung. Im Frühsommer mussten Automobilhersteller nicht wegen Corona, sondern wegen der fehlenden elektronischen Bauteile Kurzarbeit machen. Die ehemals hochperfektionierten globalen Lieferketten funktionieren nicht mehr. Die Gründe mögen unterschiedlich sein, die Folge ist überall spürbar: Die Preise für knappe Güter und Logistik steigen. So sind nicht umsonst die Aktien des US-Chipherstellers AMD seit 2016 mit 3.300 % im Plus. Diese Wertsteigerung durch hohe Nachfrage freut zwar die Aktionäre, baut aber keine Engpässe ab. Auch die Rohstoffpreise für Elastomere sind teilweise um bis zu 40 % gestiegen, die Transportkosten haben sich vervierfacht, manche Güter sind derzeit gar nicht oder erst viel später zu bekommen wie z.B. Holz, Kunststoffrohre u.v.m.
Was machen wir mit dieser Entwicklung? Welche Schritte sind wir bereit zu gehen? Ist dies der neue Normalzustand oder eine zwischenzeitliche Sonderentwicklung, die wir einfach aushalten müssen? Ich wage hier keine Prognose, glaube aber auch nicht an eine zeitliche Sonderentwicklung und irgendwann wird es wie früher.
Wenn die jetzige Situation der „Normalzustand“ wird, wofür angesichts wachsender Ressourcen-Knappheit in vielen Bereichen einiges spricht, werden wir unsere Gegenwart und Zukunft neu denken müssen. Ansatz 1 ist die Frage, was wir von dem, was wir haben oder uns gerade angewöhnen, wirklich brauchen. Müssen wir unsere Kaffeemaschinen wirklich mit Handys von unterwegs steuern. Die Liste dieses „elektronischen Alltagskomforts“ lässt sich inzwischen fast beliebig verlängern, treibt aber auch den Bedarf an „Mangelware“ hoch. Auch aus der Dichtungstechnik kennen wir permanent steigende Anforderungen, etwa bei Standzeiten, Drücken, Temperatur- und Medienbeständigkeit etc. Und natürlich geht heute mehr noch als vor fünf oder zehn Jahren. Was ich zunehmend vermisse, ist die Frage, ob die ein oder andere Entwicklung wirklich notwendig ist.
Ansatz 2 – in Ergänzung zu Ansatz 1 – ist, dass wir genau überlegen sollten, wo die benötigten Komponenten, Bauteile, Maschinen und Systeme etc. produziert werden. Derzeit gibt es auch im Bereich Dichten. Kleben. Polymer. eine Entwicklung europäische Fertigungen zu stärken. Das ist gut und sollte für alle entwicklungs-, gesellschafts- und sicherheitsrelevanten Produkte reflektiert und überlegt werden. Derzeit mögen überall signifikant steigende Preise die Motivation sein, dies zu tun. In den nächsten Jahren werden ökologische Aspekte über den kompletten Product-Life-Cycle weitere Argumente und Notwendigkeiten liefern. Auch die spüren wir wieder zuerst über den Preis – aber hier geht es letztendlich um mehr. Und je mehr ich drüber nachdenken, ist ein Zurück zu dem Wirtschaften der Vor-Coronazeit weder sinnvoll noch erstrebenswert.
„Immer weiter, höher, schneller ist keine Zukunftsperspektive, wir sollten mehr darüber nachdenken, wie wir den Wandel zum Sinnvollen für alle gestalten.“ Karl-Friedrich Berger, Gesellschafter, ISGATEC GMBH