19.11.2024 Kontrollierte Produktion mit variablen Parametern
Löslicher Automatenkaffee und Omas Filterkaffee sind out! Seit ein paar Jahren finden sich hochwertige Siebträgermaschinen nicht nur in Cafés, Restaurants oder Kaffee-Mobilen auf Messen und Veranstaltungen, sondern stehen auch in privaten Küchen.
Damit werden Hausherr bzw. Hausherrin selbst zum/r Barista, ohne oft zu wissen, was das eigentlich bedeutet: Die unterschiedlichsten Sorten und Mahlgrade, Temperaturen, Zeiten und Drücke werden ausprobiert und sollten – im Sinne einer Reproduzierbarkeit – eigentlich auch dokumentiert werden. Das Ziel ist nichts weniger als die vollendete, aromatische Tasse Kaffee, Espresso etc. mit der perfekten Crema, der richtigen Säure und in der richtigen Menge. Beim Cappucino kommt dann z.B. noch die Zubereitung des Milchschaums in der gewünschten Konsistenz als wichtiges Teilergebnis in der Verbindung mit dem Espresso dazu – denn „Bauschaum“ auf Kaffee ist kein Cappucino. Mit Übung, Aus- und Fortbildung gehen Eingangsgrößen ins Fingerspitzengefühl über – Röstgrad und Bohnengröße werden in der Mühle abgestimmt und je nach Farbe des Pulvers können Expert:innen manuell oder automatisch mit hinterlegten Bezugskurven das zeitliche Druckniveau an das „Ausgangsmaterial“ anpassen und die gewünschten Ergebnisse erzielen. Mit solchen handwerklichen Fähigkeiten und der notwendigen Ernsthaftigkeit bei dem, was man tut, ist eine neue Röstung aus Süditalien dann eine Herausforderung und keine Störgröße. Nehmen wir doch diese Begeisterung für erlernte Fähigkeiten mit und transferieren genau eben diese Motivation in den Umgang mit der Kunststoffmaschine in unserer täglichen Arbeit. Schwankende Eingangsgrößen in der Kunststofftechnik werden gerade über den Einsatz von Rezyklaten zum Thema. Die zunehmende Forderung nach dem Einsatz von Post-Consumer-Rezyklaten aus stark schwankenden Einkaufsquellen wird in einer industriellen Fertigung meist nicht als „tolle Herausforderung an die Produktion“ gesehen. Der einmal festgelegte Prozess muss so robust sein, dass nicht nur Schwankungen in der Materialcharge, sondern auch Maschinenwechsel, andere Produktionsstandorte und alle Arten von Umweltbedingungen in der Fertigung keinerlei Abweichung beim Produkt verursachen. Diese Forderungen sind richtig und im Sinne des Qualitätsmanagements absolut verständlich. Aber sind sie auch realisierbar? Großmeister absolut fehlerfreier Abläufe finden sich z.B. in der japanischen Kultur. Nicht nur das LEAN-Prinzip, auch KAIZEN oder 6-SIGMA sind allesamt Methoden der uneingeschränkt minimalen Toleranzen innerhalb eines Unternehmens. Das Prinzip CHOCO-TEI geht noch weiter: Es lässt sich vielleicht mit der Analogie „Kein Schluckauf im Prozess!“ veranschaulichen: Auch geringste Aussetzer werden detektiert, ihre Ursachen ermittelt und beseitigt. Die Auswirkungen auf die Effizienz in den Betrieben können sich sehen lassen.
Diese auf ein Mindestmaß tolerierten Prozesse und Eingangsgrößen gehören jedoch der Vergangenheit an. Nicht nur beim Einsatz von Rezyklat kommen Rohstoffe auf uns zu, die außerhalb der bisher gewohnten Eigenschaften liegen. Flexibilität und Toleranzfeld werden sich ausdehnen. Zahlreiche Mess- und Regelungstechnikunternehmen sowie die Hersteller von Spritzgießmaschinen reagieren bereits auf diese Forderung. Der Hersteller Krauss Maffei überwacht im Rahmen von „APC Plus“ gleichzeitig die Schließzeit der Rückstromsperre, die Druck- und Viskositätsänderung. Ein direkter Regelkreis verschiebt noch im gleichen Zyklus den Umschaltpunkt im Prozess. Arburg nennt ein ähnliches Vorgehen „Turnkey Control Module (ATCM)“. Das Ziel ist, dass geschlossene Regelkreise automatisch für eine Prozessanpassung sorgen. Der Mensch als Bediener:in übernimmt nicht mehr das Eingreifen in den Prozess.
Doch keine Maschine lernt von selbst. Ihre Regelkreise müssen auf die zu erwartenden Eingangsgrößen und auf das gewünschte Ergebnis trainiert werden. Dieses Training muss von erfahrenen und mit dem Prozess bestens vertrauten Maschinenbedienenden durchgeführt werden. Und hier kommen wir an den Anfangspunkt zurück. Wie bei der bestmöglichen Kaffeezubereitung müssen wir den Prozess beherrschen und mit Ernsthaftigkeit betreiben. Denn – um im Bild zu bleiben – das Ergebnis einiger Kaffeevollautomaten kann in der Kunststoffverarbeitung oder beim Spritzgießen von Dichtungen niemand wollen. Und mit dem Blick auf die KI und ihre Potenziale steigen die Anforderungen an unsere Ernsthaftigkeit. Wir müssen uns damit beschäftigten und die neuen Möglichkeiten als Chance verstehen. Das sind die Voraussetzungen, um einem System unsere Expertise beizubringen. Dieses Selbstverständnis ist wesentlich für unseren täglichen Umgang mit der Maschine – sei es in der (virtuellen) Produktentwicklung oder im automatisierten Prozess. Jetzt ist die Zeit, die zur Verfügung stehenden datenbankbasierten Plattformen (Product Lifecycle Management) mit ihren Speicher- und Auswertemöglichkeiten zu nutzen. Die „Ruhe in der Produktion“ und die gewonnene Zeit für einen leckeren Kaffee basieren wesentlich auf der Anwendung und Digitalisierung der menschlichen Fähigkeiten.
"Werden Prozesse nicht verstanden und/oder ernsthaft betrieben, entfaltet auch die KI hier kein Potenzial.“ Dr.-Ing. Michael Bosse, Technical Sales, Material- und Prozess-Experte, SimpaTec GmbH