09.09.2021 „Früher war nicht alles besser, aber einiges hat sich bewährt.“
In diesen Tagen werde ich 50 Jahre in der Welt der Kleb- und Dichtstoffe tätig sein und erlaube mir daher einen kurzen Rückblick.
In diesen fünf Dekaden habe ich viele geniale Klebexperten erlebt – genial in der unterschiedlichsten Art und Weise. Aber alle haben sie das Kleben nach vorne gebracht, sei es durch neue Klebstoffe, durch die Erschließung neuer Anwendungsgebiete oder durch neue Applikationstechnik u.v.m.
Und wo sind sie heute – diese Veteranen des Klebens? Erfreulicherweise sind nicht wenige dem Kleben treu geblieben, andere haben sich in andere Branchen verabschiedet. Das ist an sich nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist dagegen, dass einige dieser erfahrenen Klebspezialisten sich ihr ganzes Berufsleben mit Kleb- und Dichtstoffen beschäftigt haben und manche das sogar nach ihrem Eintritt in den Ruhestand immer noch tun. Das zeigt zum einen, dass das Thema Kleben und Dichten fasziniert, zum anderen aber auch, dass es selbst für erfahrene Branchen-Insider immer noch genug Neues in der Welt des Klebens und des Dichtens zu entdecken gibt. In den letzten beiden Jahren haben sich nicht wenige dieser Veteranen in den Ruhestand verabschiedet, weitere werden das in den nächsten zwei bis drei Jahren tun. Da stellt sich die Frage: „Wie geht es mit dem Kleben weiter?“
Natürlich wachsen im Bereich des Klebens gute Leute und auch sehr gute Leute nach. Aber es gibt einen Unterschied. Wir haben es zunehmend mit Spezialisten zu tun, darunter tolle Chemiker, die mit jedem Molekül auf Du und Du stehen. Das heißt aber nicht zwangsläufig, dass sie etwas vom Kleben verstehen. Oft haben sie keinen Bezug zur Anwendung. Auch tolle Anwendungstechniker wachsen heran. Sie erfassen beim Kunden vor Ort die klebtechnische Aufgabenstellung und erarbeiten eine Lösung für die gegebene Aufgabenstellung. Sie können aber diese Erkenntnisse nicht unbedingt in ein verändertes Anforderungsprofil an den Klebstoff und damit in ein Lastenheft für den Entwickler umsetzen. Kurz: Ich vermisse zunehmend den „Blick für´s Ganze“.
Denke ich darüber nach, warum das so ist, fällt mir auf, dass die herstellende Industrie diese Entwicklung durch kleinteilige Verantwortlichkeiten mit einer zunehmenden Anzahl von Schnittstellen gefördert hat und fördert. Einer macht dies, der andere jenes – jeder seine Aufgabe – aber niemand hat ganzheitlich die Aufgabenstellung des Anwenders und deren Lösung im Fokus.
Diese Anmerkungen sind keine Kritik an der nachwachsenden Generation und damit an der Gruppe der zukünftigen Kleb-Veteranen. Ich kritisiere eher unser Bildungssystem, das eine (zu) frühe Spezialisierung fordert und fördert. Ich beklage die Tendenz der Anbieter, sich zunehmend arbeitsteilig zu organisieren und damit Schnittstellen zu schaffen, die der Sache nicht immer dienlich sind. Zugegeben, die Großen der Branche können sich das leisten und dann gehen Verkäufer, Anwendungstechniker und Entwickler zu dritt zum Kunden, im Einzelfall noch begleitet von einem Applikationssystem-Spezialisten. Was der Kunde davon hält, klammern wir hier einmal aus. Aber was ist mit den Mittelständlern, die ja bekanntermaßen das Gros der Klebstoffhersteller ausmachen? Die und im Zweifelsfall die Kunden brauchen Mitarbeiter mit einem breiteren Know-how und ganzheitlichen Projektverständnis. Bleibt die Frage, wo diese Klebspezialisten herkommen sollen.
„Mit den Kleb-Veteranen gehen die Generalisten und werden meist durch Spezialisten ersetzt – beim Kleben liegt darin ein nicht zu unterschätzendes Risiko.“ Thomas Stein, Inhaber, IMTS Interims Management