20.06.2016 Die Weichen werden falsch gestellt
Die institutionelle Dichtungsforschung wird systematisch ausgehungert
Der Dichtungstechnik stehen – langfristig gesehen – schwierige Zeiten bevor, das machte unser Gespräch mit Professor Dr.-Ing. habil. Werner Haas und Dr. Frank Bauer deutlich. Auf der 19. ISC wird man allerdings davon wenig merken. Dort wird es wieder Impulse, Informationen und Gedankenaustausch zu vielen Fragestellungen geben. Doch um Dichtigkeit geht es dabei immer weniger.
Ist Dichtigkeit eigentlich noch ein Thema bei den aktuellen Entwicklungstrends?
Haas: Nein, ausreichende Dichtigkeit oder besser: nur zulässige Leckage, die ja stark von der Anwendung abhängt, werden heute schlicht vorausgesetzt. Es wird vielmehr ständig daran gearbeitet, diese „ausreichende Dichtigkeit“ auch bei ungünstigeren Betriebsbedingungen zu erreichen. Der Hauptentwicklungstrend bei Dichtungen für bewegte Maschinenteile ist es seit geraumer Zeit, die Reibung zu mindern – bis hin zu ihrer vollständigen Vermeidung bei berührungsfreien oder abhebenden Lösungen. Beispiele hierfür sind gasgeschmierte Gleitringdichtungen, Sperrluftdichtungen, Fanglabyrinth-Dichtungen u.v.m. Und diese Entwicklung hat ihren Grund, denn geringere Reibung bewirkt sehr viel – weniger Verschleiß, weniger Energieverbrauch, weniger Erwärmung, weniger Alterung, weniger Temperatur und damit hohe Lebensdauer, hohe Betriebsbedingungen und hohe Energieeffizienz, was ja einer der Megatrends ist.
Welche Rolle spielen neue Werkstoffe für moderne Dichtungslösungen?
Haas: Entwicklungsmäßig tut sich am meisten bei den Werkstoffen. Besonders bei den Kunststoffen und Elastomeren sowie bei Beschichtungen von Dichtelementen und Gegenflächen. Wenn man Beschichtung als Bauteiloberfläche interpretiert, kann auch noch die gezielte Oberflächenstrukturierung mit dazugezählt werden. In der hier möglichen riesigen Vielfalt lassen sich für jede tribologische Kombination von Dichtelement, Gegenfläche, abzudichtendem
Fluid und Betriebsbedingungen geeignete Kombinationen finden. Die Frage ist nur – wie und zu welchen Kosten? Dabei geht die Tendenz bei höheren Anforderungen eindeutig weg vom Einheitsdichtsystem und der Idee vom „Universalwerkstoff“ hin zum speziell designten System und zu immer spezielleren Werkstoffen.
„Dichtigkeit – auch unter schwierigeren Bedingungen – wird einfach vorausgesetzt, der zentrale Trend ist Reibungsreduktion.“ Professor Dr.-Ing. habil. Werner Haas, IMA Universität Stuttgart
"Wenn für die Dichtungsforschung die Weichen nicht richtig gestellt werden, droht uns das gleiche Szenario wie der Elektrochemie – mit den heute erlebbaren Folgen, z.B. für die Elektromobilität.“ Dr. Frank Bauer, IMA Universität Stuttgart