10.09.2024 Der Lauf der Zeit
Die Produktionstechnik aus dem Jahr 2000 unterscheidet sich äußerlich oft nicht sehr von der heutigen.
Zwar haben die Steuerung, die Effektivität der Motoren, die Möglichkeit zur digitalen Vernetzung oder zur Roboterintegration enorme Fortschritte gemacht, aber Hydraulik, Maschinenbett, Schutzeinrichtung, Elektroanschluss oder Kühlsysteme sind weitgehend gleich geblieben. Das mag der eine oder andere beruhigend finden, ändert sich doch eh alles viel zu schnell. Diese äußerlichen Gegebenheiten einer scheinbar unveränderten Welt in der Produktion sind aber ein enormes Hindernis bei der Akzeptanz und Implementierung aktueller, digitaler Hilfsmittel. Denn die digitale Welt hat die materielle überholt.
Im Jahr 2000 hieß es im Handbuch der Prozessautomatisierung [1]: „Weder die CAD-Konstruktionszeichnungen noch die Fließbilder der Prozesse können derzeit in den Berechnungsprogrammen als Datenbasis weiterverwendet werden […]. Eine elektronische Datenübergabe ist derzeit nicht möglich. (Einige Entwicklungen von Simulatorherstellern gehen jedoch in diese Richtung). Auch dies ist Ausdruck einer noch fehlenden Integration des gesamten Prozesses der Produktentwicklung.“
Ein Rückblick auf die Rechnertechnik des Jahres 2000 macht uns klar, dass ihr Fortschritt gegenüber den meisten „materialbasierten“ Produktionstechniken erheblich schneller war. Die virtuelle Produktentwicklung und die Abbildung von Prozessen durch digitale Zwillinge, Struktur- und Fluidsimulationen sind längst aus den Kinderschuhen heraus und dem eigentlichen Herstellungsprozess weit über den Kopf gewachsen. Dieses Wachstum und die daraus resultierende Distanz können uns bei herkömmlicher Betrachtungsweise, ein Produktionsunternehmen zu verstehen, zu leiten oder darin zu arbeiten, durchaus überfordern.
In einem digitalen Modell sind geometrische Varianten eines Produktes ebenso schnell darstellbar wie etwa eine Materialänderung, der Einfluss von Temperaturen, Drücken oder Geschwindigkeiten. Verfahrensalternativen können direkt am Rechner ausprobiert werden. Was in der Produktion zusätzlich Rüstzeiten, Materialumstellungen oder den Werkzeugbau braucht, ist am digitalen Abbild durch wenige Klicks machbar.
Durch die Reduzierung auf wesentliche Eingabefaktoren ist die Simulation in der Lage, ausgewählte Einflüsse auf den Prozess zu berechnen. Die Produktion mit allen ihren Unwägbarkeiten prägt jedoch das Tagesgeschäft – die Simulation erscheint möglicherweise simpel oder weltfremd. Hier ist es wie mit jeder komplexen technischen Einrichtung: Ihre Ergebnisse können nur so gut sein, wie ihre sinnvolle Verwendung. Nur mit den nötigen Kenntnissen und Fähigkeiten sowie dem Willen, sich auf die neue Technik einzulassen und sie zu respektieren, kann sie ihr Potenzial vollends ausspielen.
Auch die Scheu vor den digitalen Möglichkeiten muss überwunden werden. Wenn der gestandene Werkzeugmacher keine Probleme damit hat, ein 40-t-Spritzgieß-Werkzeug auf die Seite zu legen und zu öffnen, aber vor einem Simulationsrechner mit den Worten zurückweicht: „ich will nichts kaputtmachen“, dann ist es höchste Zeit für eine Weiterbildung.
Bei der Produktentwicklung ist die Simulation ein maßgebliches Werkzeug [2]: In der Konzeptphase unterstützt eine Grobsimulation die Entscheidung zur Machbarkeit. Während der Entwicklungsphase ist die FEM-Simulation, basierend auf der CAD-Datei, eine wichtige Hilfestellung. Bei der Konstruktion wird die Feinsimulation für die Justierung der Entwicklungsergebnisse eingesetzt und durch Musterungsergebnisse validiert. Während der Produktion ist die Simulation ein wertvoller Helfer für die Prozessoptimierung: Auch bei etablierten Produkten lohnt es sich, den aktuellen Prozess durch Simulationen valide abzubilden und auf Robustheit zu überprüfen.
Der Appell geht an dieser Stelle in die Produktionsabteilungen: Teilen Sie Ihre Erfahrungen zu den laufenden Prozessen mit der Produktentwicklung und nutzen Sie die Chancen der Optimierung. Wenn Sie hierzu gerade keine Ressourcen aufbringen können, weil Sie mit fehler- oder neuerungsbedingten Änderungen zu kämpfen haben, ist das genau der richtige Auslöser, diesen Teufelskreis zu durchbrechen.
Literatur:
[1] Früh / Schaudel / Urbas / Tauchnitz: „Handbuch der Prozessautomatisierung, Prozessleittechnik für verfahrenstechnische Anlagen“, Fachbuch, 2000, Vulkan-Verlag. ISBN 978-3-8356-7351-9
[2] Martin Keuerleber, Peter Eyerer: „Konstruieren und Gestalten mit Kunststoffen“, Polymer Engineering, 2020
„Und jetzt kommt noch die KI und pusht die digitale Entwicklung. Es ist Zeit, mit dem „Lauf“ zu beginnen. Dabei ist es erstmal egal, wo man startet, was zählt, ist Bewegung.“ Dr.-Ing. Michael Bosse, Technical Sales, Material und Prozess-Experte, SimpaTec GmbH