17.09.2018 Das Tempern einsparen
Neue Flüssigsiliconkautschuke für sensitive Anwendungen erlauben die Optimierung der Produktionsabläufe
Werden Siliconartikel aus konventionellen Siliconkautschuken hergestellt, sorgt häufig erst das Tempern für das Erreichen der regulatorischen Anforderungen. Mit neuartigen Flüssigsiliconen wird dieser aufwändige Prozessschritt für viele Anwendungen obsolet.
Flüssigsiliconkautschuke – eine noch recht junge Werkstoffklasse – haben sich fest auf dem Markt etabliert. Sie werden im vollautomatisierten Spritzgießverfahren zu Formteilen verarbeitet. Auf diese Weise können Siliconartikel in großen Stückzahlen schnell, effizient, kostengünstig und in hoher Präzision gefertigt werden. In vielen Fällen werden die spritzgegossenen Formteile anschließend getempert. Diese Hitzebehandlung muss bei Siliconartikeln durchgeführt werden, wenn sie aus konventionellen Flüssigsiliconen hergestellt und im Baby Care-, Lebensmittel- oder Medizinbereich verwendet werden, um flüchtige oder extrahierbare Restsubstanzen aus dem Elastomer zu entfernen. Nur so lassen sich die strengen regulatorischen Vorgaben einhalten, die für Siliconartikel bei sensitiven Anwendungen gelten.
Das Tempern ist ein kosten-, zeit- und arbeitsaufwändiger Prozessschritt, der die Siliconverarbeiter in ihrer Produktivität erheblich einschränkt. Mit der neuen Produktreihe ELASTOSIL® LR 5040 kommt eine neue Generation von Flüssigsiliconkautschuken auf den Markt, die dieses Problem löst: Tempern ist dadurch in vielen Fällen künftig nicht mehr erforderlich.
Hohe Sicherheitsstandards
Spritzgegossene Siliconformteile sind im Idealfall ohne weitere Fertigungsschritte einsatzbereit. In der Praxis ist es allerdings oftmals sinnvoll und in einigen Fällen sogar notwendig, die Teile bei Temperaturen bis 200 °C in einem gut belüfteten Ofen für mehrere Stunden auszuheizen. Diese als Tempern bezeichnete thermische Nachbehandlung verbessert die mechanischen Eigenschaften des Elastomers und sorgt dafür, dass flüchtige Bestandteile entfernt werden, die als Nebenprodukte bei der Herstellung von Siliconpolymeren entstehen. Ob eine Wärmenachbehandlung notwendig ist, hängt von der Zusammensetzung der verarbeiteten Siliconkautschukmasse und von der späteren Anwendung der Formteile ab. Bei Artikeln für sensitive Anwendungen etwa setzt der Gesetzgeber mit strengen Reinheitsvorschriften einen hohen Sicherheitsstandard. Besonders rein müssen z.B. Siliconartikel für Babycareund Lebensmittelanwendungen sein. In diesen Fällen darf der Flüchtigengehalt höchstens 0,5% betragen. Diesen Grenzwert nennen die Empfehlung „XV. Silicone“ des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR), das französische Dekret vom 25. November 1992 oder die Schweizer Bedarfsgegenständeverordnung 817.023.21, sowie die für die Säuglings- und Kleinkind-Trinkausstattung geltende Norm EN 14350-2 sowie die Norm EN 1400, welche für Beruhigungssauger gilt.
Als Maß für den Flüchtigengehalt wird in den Regularien der Gewichtsverlust herangezogen, den die Siliconartikel bei einer genau festgelegten Hitzebehandlung aufweisen: Getrocknete Proben der Formteile dürfen bei dieser Behandlung nicht mehr als 0,5% ihrer Masse verlieren. Die Vulkanisate konventioneller Flüssigsiliconkautschuke genügen den Vorschriften nur im getemperten Zustand.
Das Tempern der Vulkanisate bedeutet aber für den Siliconverarbeiter einen zusätzlichen Prozessschritt in seiner Fertigung, der nicht nur mit einem hohen Energieeinsatz verbunden ist und Emissionen erzeugt, sondern auch die Produktivität begrenzt. Während das Spritzgießen und das Verpacken der Artikel vollautomatisch und mit kurzen Taktzeiten ablaufen, ist das Tempern ein noch weitgehend manueller Prozess: Das Befüllen und Entleeren der Temperöfen geschieht meist per Hand – das Ausheizen der Siliconteile selbst dauert meist mehrere Stunden. Somit unterbricht das Tempern die Prozesskette und begrenzt die Fertigungskapazität.
Deshalb war es das Ziel, den Siliconverarbeitern diesen aufwändigen Prozessschritt zu ersparen. Auf der Grundlage einer neuen Produkttechnologie und eines neuartigen Formulierungskonzepts entwickelte Wacker die Flüssigsiliconkautschuk-Reihe ELASTOSIL® LR 5040. Siliconartikel, die im Spritzgießverfahren aus diesem Kautschuk hergestellt werden, erreichen bereits im ungetemperten Zustand sehr gute mechanische Eigenschaften und erfüllen hinsichtlich des Restgehaltes flüchtiger Substanzen die genannten Richtlinien für sensitive Anwendungen. Tempern ist somit in vielen Fällen nicht mehr erforderlich.
Die besonderen Eigenschaften des Flüssigsiliconkautschuks, ermöglichen es Unternehmen ihre Qualitätsansprüche an ihre Produkte noch besser erfüllen zu können.
Hohe Reinheit ohne Tempern
Entwickler und Anwendungstechniker des Chemiekonzerns prüften die verschiedenen Härtevarianten der neuen ELASTOSIL® LR 5040-Reihe eingehend hinsichtlich ihrer Verarbeitungs- und Bauteileigenschaften. Die Untersuchungen zeigen, dass sich die Flüssigsilicone ohne Schwierigkeiten durch Spritzgießen verarbeiten lassen. Zur Verfügung stehen derzeit Härtegrade von 30 bis 70 Shore A, darunter auch die im Baby Care-Bereich vielseitig einsetzbare Type der Shore-A-Härte 45. Anders als bei konventionellem Siliconkautschuk beziehen sich die angegebenen Härtegrade auf den ungetemperten Zustand. Sie werden bei ELASTOSIL® LR 5040 mit einer besonders engen Toleranz von ±3 Shore-A-Punkten erreicht.
Die Überprüfung des Flüchtigengehalts erfolgte zunächst über Gewichtsverlustmessungen, wie es das BfR für Lebensmittelanwendungen empfiehlt. Dabei wurden Untersuchungen an Proben aus ungetemperten, 2 mm dicken Prüfplatten durchgeführt. Der Gewichtsverlust lag bei allen Typen unter 0,4% und unterschritt somit sicher die 0,5%-Grenze. Auch bei den Untersuchungen nach EN 14350-2, welche für die Säuglingsund Kleinkind-Trinkausstattung gilt, betrug der Gewichtsverlust weniger als 0,4%.
Den Anspruch der neuen Flüssigsilicone, außerordentlich rein zu sein, unterstreicht auch ihr optisches Erscheinungsbild: Sie sind transluzent und schimmern zartblau. Die aus ihnen hergestellten Formteile hinterlassen einen hochwertigen, sauberen Eindruck. Außerdem konnte die Vergilbungsneigung, wie sie bei der Lagerung getemperter Flüssigsiliconartikel teilweise auftritt, auf ein Minimum reduziert werden.
Exzellenter Weiterreißwiderstand im ungetemperten Zustand
Hohe Anforderungen bestehen in vielen sensitiven Anwendungen aber nicht nur hinsichtlich der Reinheit, sondern auch hinsichtlich der mechanischen Eigenschaften. Babycare-Artikel können z.B. die erforderliche Beißfestigkeit nur dann erreichen, wenn das Material entsprechend hochweiterreißfest ist. Kleinere Risse dürfen sich auch dann nicht fortsetzen, wenn der Gummi stark beansprucht wird. Auch hier können die neuartigen Flüssigsiliconkautschuke punkten: Ihre Vulkanisate besitzen bereits im ungetemperten Zustand einen Weiterreißwiderstand von bis zu 45 N/mm (gemessen nach ASTM D 624 B) (Bild 1.) Solche Werte erreichen konventionelle Flüssigsilicone normalerweise erst nach dem Tempern.
Darüber hinaus wurde untersucht, wie sich das neue Silicon in ausgewählten Baby-Care-Anwendungen verhält. Dazu unterzog man aus ELASTOSIL® LR 5040 hergestellte Trinksauger einem simulierten Beißtest nach EN 14350-1: Die Sauger werden zunächst auf definierte Weise angeritzt und anschließend in Längsrichtung gedehnt. Dabei müssen die Sauger 10 s lang einer Zugbelastung von 9,5 kg standhalten. In diesen Tests schnitten ungetemperte Sauger, die aus dem neuen 45- bzw. 50-Shore-A-Silicon hergestellt wurden, besonders gut ab. Mit der eingesetzten Saugergeometrie gab es keinerlei Ausfälle. Damit ist das Ergebnis vergleichbar und in einigen Fällen sogar besser als das von getemperten Saugern, die aus marktüblichen, hochkerbfesten LSR-Produkten hergestellt werden.
Die stark dehnbaren, elastischen Vulkanisate sind zudem bereits im ungetemperten Zustand schnappig. Das bedeutet: Fällt die verformende Belastung weg, nimmt ein verformter Artikel innerhalb von Sekundenbruchteilen wieder seine ursprüngliche Gestalt an.
Wachsende Anforderungen
Sowohl die gesetzlichen als auch die industriellen Anforderungen an die Rohstoffindustrie steigen stetig. So werden immer strengere Vorschriften erlassen, gerade auch den Anteil flüchtiger Bestandteile betreffend. Das ist eine Herausforderung für die gesamte Chemiebranche und betrifft auch die Silikonkautschuke. Dieser Trend wird im Wesentlichen vom Babycare- und Lebensmittelmarkt, aber auch von der Automobilindustrie getrieben. Wacker hat deshalb entschieden, sein LSR-Produktportfolio zu optimieren und den Gehalt an flüchtigen Substanzen signifikant zu reduzieren. Dank modernster Produktionstechnologien, die zum Einsatz kommen, ist man in der Lage, weit über gesetzliche Vorgaben hinauszugehen. Die unerwünschten niedermolekularen Bestandteile werden sehr effizient reduziert in den Rohstoffen und die abgetrennten Substanzen wieder in den Siliciumkreislauf des Produktionsstandorts eingespeist. Auf diese Weise trägt das Unternehmen dazu bei, den ökologischen Fußabdruck von Siliconen weiter zu verbessern.
Fazit
Für den Silikonverarbeiter eröffnet das neue Flüssigsilicon neue Möglichkeiten. Da der Prozessschritt des Temperns entbehrlich wird,
kann der Hersteller seine Fertigung vereinfachen und eine deutlich höhere Produktivität erreichen. Damit wird eine vollautomatisierte Fertigung möglich, die bei Bedarf auch vollständig im Reinraum durchgeführt werden kann. Typische Beispiele für Silikonartikel, die jetzt ohne Tempern hergestellt werden können, sind neben unterschiedlichsten Baby-Care-Produkten auch Produkte, die in Kontakt mit Lebensmitteln kommen können, wie Dichtungen für Aufbewahrungsbehältnisse, aber auch medizintechnische Erzeugnisse wie Beatmungsmasken, Einzeldosisbehälter für Augentropfen oder Filterelemente mit integrierten Dichtelementen.
Fakten für Konstrukteure
• Die Materialwerte erlauben ein breites Einsatzspektrum
Fakten für Einkäufer
• Deutlich effizientere Produktionsabläufe, da auf das Tempern verzichtet werden kann
Fakten für Qualitätsmanager
• Die Flüssigsilikonkautschuk-Reihe erfüllt relevante Normen für sensitive Anwendungen in der Lebensmittelindustrie und Medizin
Relevante Normen
Für Silicone, die in sensiblen Anwendungen eingesetzt werden, sind in etlichen Gesetzen und Normen auch Obergrenzen für extrahierbare und/oder migrierende Bestandteile genannt. Vorgaben dazu finden sich etwa in der Verordnung CFR 21 § 177.2600 der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) oder in der BfR-Empfehlung „XV. Silicone“. ELASTOSIL® LR 5040 erfüllt im ungetemperten Zustand diese sowie die Anforderungen der amerikanischen Pharmacopeia (USP <88>) an Class VI-Materialien. Ungetemperte Vulkanisate wurden auch auf Biokompatibilität nach ISO 10993 getestet.
Bild 1: ELASTOSIL® LR 5040 (grüne Kurve) besitzt im ungetemperten Zustand einen deutlich höheren Weiterreißwiderstand als Standard-Flüssigiliconkautschuke (gelbe Kurve). Daher müssen Spritzgussteile aus ELASTOSIL® LR 5040 zur Verbesserung ihrer mechanischen Eigenschaften vor ihrer Auslieferung in vielen Fällen nicht mehr thermisch nachbehandelt werden (Bild: WACKER)