10.09.2024 Abfallsortierung auf Molekülebene: chemisches Recycling
Chemisches Recycling gilt als Wunderwaffe, wenn es um schwer zu sortierende und verwertende Kunststoffe und Gemische geht. Einer der Väter der Kreislaufwirtschaft, der Schweizer Walter R. Stahel, hat 2016 in einem „nature“-Artikel festgestellt: „The ultimate goal is to recycle atoms“ [1].
Man zerlegt das Plastik in seine Bausteine (zwar nicht in Atome, aber kleine Moleküle), befreit diese von Verunreinigungen und erzeugt aus den Bausteinen neuen Kunststoff, der von konventionellem Material nicht zu unterscheiden ist.
Je mehr die großtechnische Umsetzung solcher Verfahren in Sicht ist und in die öffentliche Wahrnehmung gelangt, desto mehr Fragen und Bedenken kommen allerdings auf. Wie umwelt- und klimafreundlich sind solche Prozesse überhaupt und erzeugen sie vielleicht neue, unbekannte Schadstoffe? Will sich die Kunststoffindustrie nur einen bequemen Entsorgungsweg schaffen, um uns weiterhin mit Plastikprodukten zu überschwemmen [2]? Um diese Diskussion zu versachlichen, helfen nur belastbare Fakten – und diese entstehen im Moment gerade erst [3].
Der Schlüssel zu einer Bewertung liegt zudem in der sorgfältigen Differenzierung und Auswahl von Bezugspunkten. Wirtschaftlich und energetisch betrachtet, sollte dem mechanischen Recycling der Vorzug gegeben werden. Jedoch kann das chemische Recycling im Sinne der Abfallhierarchie helfen, Restfraktionen zu verwerten und die Zirkularität entscheidend zu verbessern [4]. Wenn das oberste Ziel die Verminderung von CO2-Emissionen ist, hat unter den thermischen Verfahren die Pyrolyse einen klaren Vorteil vor der Verbrennung, da sie einen Großteil des Kohlenstoffs im Kreislauf hält. Dies gilt insbesondere dann, wenn die eingesetzte Energie aus erneuerbaren Quellen stammt. Ein genereller Vergleich hinsichtlich Umweltbelastungen ist nur mithilfe detaillierter Modellierungen wie Materialfluss- und Lebenszyklusanalysen unter Einhaltung klarer Randbedingungen möglich [5].
Ob das chemische Recycling eine Wertschöpfung darstellt, hängt von der Art und Qualität des Ausgangsmaterials ab. So lässt sich separat gesammeltes Polystyrol recht einfach de- und repolymerisieren, Altreifen und saubere Polyolefinabfälle ergeben ein für Steamcracker geeignetes Rohöl, und verbrauchte Matratzen aus PU lassen sich gewinnbringend in Polyole umwandeln. Wesentlich mehr Aufwand erfordert z.B. die Behandlung von Mischabfällen, Kunststoffen aus Elektroschrott oder Shredderleichtfraktionen.
Eine große Rolle spielt auch die örtlich verfügbare Infrastruktur. In Industriestaaten kann das chemische Recycling auf etablierte Sammel- und Sortiersysteme aufbauen und das Pyrolyseöl lässt sich nahtlos in petrochemische Prozesse einspeisen. In Entwicklungsländern kann dagegen die Pyrolyse von Kunststoffabfällen in dezentralen Kleinanlagen und eine lokale Verwendung des Öls mithelfen, die Ausbreitung von Abfall in die Umwelt zu verhindern [6]. Das Spektrum der Optionen vergrößert sich noch beträchtlich durch alternative klassische und neue Lösungsansätze wie Vergasung mit Fischer-Tropsch-Synthese, Solvolyse, biochemische Verfahren oder massenbilanzierte Technologien.
Die Frage, ob das chemische Recycling eine Wunderwaffe ist oder nicht, ist offensichtlich viel zu allgemein formuliert. Mit einer ausreichenden Faktenlage und Differenzierung kann das neue Verfahren jedoch gewinnbringend genutzt werden und einen wichtigen Beitrag zu Kreislaufwirtschaft und Klimaschutz leisten.
[1] Walter R. Stahel: The circular economy. Nature 531 (2016), 435–438,
https://www.nature.com/articles/531435a
[2] AG Chemigroup: Chemical Recycling: Sustainable, Profitable, or Just Green-Washing?
https://blog.agchemigroup.eu, 14.03.2024
[3] Magdalena Klotz et al.: The role of chemical and solvent-based recycling within a sustainable circular economy for plastics. Science of The Total Environment 906, 2024,
https://doi.org/10.1016/j.scitotenv.2023.167586
[4] Martyn Tickner: Thoughts from the Alliance: the notion of “Cascade Recycling“.
https://endplasticwaste.org/en/our-stories/notion-of-cascade-recycling, 03.06.2021
[5] A.E. Schwarz et al: Plastic recycling in a circular economy; determining environmental performance through an LCA matrix model approach. Waste Management 121, 2021,
https://doi.org/10.1016/j.wasman.2020.12.020
[6] Stavolt AG: Aus Plastikmüll soll Öl werden. HTZ Aargau, https://hightechzentrum.ch/projekt/pionier-in-suedostasien
„Beim Recycling gibt es absehbar keine ‚Wunderwaffen’, sondern nur einen Mix sinnvoller Möglichkeiten.“ Dr. Arno Maurer, Senior Research Scientist, IMP Institut für Mikrotechnik und Photonik, OST Ostschweizer Fachhochschule