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„Aus Lust wird immer mehr Frust“

(Bild: © AdobeStock_ Mediaparts)

07.09.2023 „Aus Lust wird immer mehr Frust“

von Karl-Friedrich Berger (ISGATEC GmbH)

In meinen mehr als 40 Berufsjahren hat mir insbesondere die anwendungstechnische Beratung viel Spaß gemacht. Ich hatte immer Lust darauf, die jeweils technisch und wirtschaftlich beste Lösung zu erarbeiten.

Inzwischen hat diese Arbeit eine Frustkomponente, der man nicht entgehen kann. Denn viele Lösungen müssen inflationären Verordnungen, Normen, Gesetzen gerecht werden. Damit sind viele technisch und wirtschaftlich beste Lösungen für immer mehr Aufgabenstellungen nicht mehr möglich. Ich will die Problematik an ein paar Beispielen verdeutlichen: Vor einiger Zeit wurde ich zu einer anwendungstechnischen Beratung in einem Schadensfall hinzugezogen. In einem Chemiewerk fielen Dichtungen bereits nach drei Monaten aus, die eigentlich erst nach sechs Monaten, im Rahmen einer regelmäßigen Wartung, ausgetauscht werden sollten. Nach einer systematischen Analyse möglicher Ursachen wurde festgestellt, dass der Mischungslieferant, ohne seinen Kunden darüber zu informieren, bedingt durch schärfere ROHS/REACH-Regelungen einen Bestandteil der EPDM-Mischung gegen ein nun konformes Produkt ausgetauscht hatte. Die Folge aber war, dass die Dichtung nicht mehr die bisherige Standzeit hatte. Alle Versuche, eine andere EPDM-Mischung zu finden, die die vorherigen Standzeiten ermöglicht hätte, waren ergebnislos. Die Folge war, dass man auf ein deutlich teureres FKM auswich. Wie lange diese Lösung angesichts der geplanten PFAS-Regulierung Bestand hat, bleibt abzuwarten. Denn auch ungeachtet des Ausganges dieser Regulierung verändert sich derzeit der Markt deutlich, d.h. europäische Produktionskapazitäten sind und werden abgebaut und diese Werkstoffe damit teurer. Doch nicht genug des „Wahnsinns“. Bedingt durch das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz müssen Händler und Hersteller ihre Beschaffung grundsätzlich neu überdenken. Nehmen wir als Beispiel eine seit über zwanzig Jahren andauernde Zusammenarbeit mit einem indischen Hersteller. Nach dem vorliegenden Gesetz müssen wir nun diesem Partner umfangreiche Fragebögen senden, bzw. auditieren, ob ggf. Menschenrechtsrisiken oder umweltbezogene Risiken vorliegen. So gilt es z.B. zu klären und zu dokumentieren, ob es eine Missachtung von Arbeitsschutz und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren gibt, ob Koalitionsfreiheit, Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Kollektivverhandlungen missachtet werden, gegen das Verbot der Ungleichbehandlung in Beschäftigung verstoßen wird etc. Es ist der Höflichkeit und der langjährigen Verbindung zu verdanken, dass der indische Partner überhaupt zu einem Dialog hierzu bereit ist. Sind sich die verantwortlichen Politiker eigentlich bewusst, mit welcher europäischen Arroganz (dass unser Denken überall zu herrschen hat) hier agiert wird und welch unglaublicher administrativer Aufwand eine solche Dokumentation verursacht? Hinzu kommt, dass all dies jährlich zu überprüfen ist und Veränderungen zu dokumentieren sind. Das nächste Level des administrativen Wahnsinns ist die ESG-Berichtspflicht. Geht man systematisch vor, sind ca. 120 Fragen aus den Bereichen Umwelt, Soziales, Governance zu beantworten und die Ergebnisse zu dokumentieren. All dies mündet dann in einen Bericht. Auch hier sind permanente Anpassungen und Verbesserungen notwendig. All dies gipfelt dann z.B. in Kundenanfragen, wie groß der CO2-Fußabdruck einer Dichtung aus Gummi oder einem anderem Compound ist. Die Antwort darauf wird wohl noch lange auf sich warten lassen. Blicken wir in die Zukunft, denn es geht ja noch weiter. Die EU bereitet eine neue EU-Verordnung 2023/1115 über entwaldungsfreie Rohstoffe und Erzeugnisse vor. Die Verordnung gilt auch für Händler, die solche Produkte in den Verkehr bringen. Von dieser Verordnung sind z.B. gestanzte Naturkautschukdichtungen und Naturkautschuk-O-Ringe betroffen. Zukünftig sind hierfür die geografischen Koordinaten derjenigen Grundstücke zu erfassen, auf denen der Rohkautschuk gewonnen wurde. Der durchschnittliche Ertrag liegt bei 5 kg/Baum/Jahr. Aber welche Menge findet man dann in einer Dichtung wieder? Die Geolokationsdaten müssen in einer elektronisch abrufbaren Dokumentation erfasst werden. Bei Lieferung vor dem Inverkehrbringen auf dem Unionsmarkt muss unmittelbar eine Sorgfaltserklärung abgegeben werden. In Folge werden sich viele Hersteller und Händler wohl überlegen, Naturkautschukprodukte gänzlich aus dem Sortiment zu streichen. Was ist die praktische Folge dieser Gesetze und Verordnungen für eine Anwendungsberatung? Früher klärte man die Einsatzbedingungen, die Produktanforderungen, den Stand der Technik und die beste und damit günstigste Fertigungstechnik. Inzwischen muss geprüft werden, welche administrativen Vorgaben zu erfüllen sind und, vor allem, welche Kosten die Aufbereitung, Dokumentation, Aktualisierung der Daten für die jeweiligen Produkte verursachen. Auch bei Anfragen müssten all diese Bedingungen und Anforderungen geklärt werden. All das wird letztlich zu einer exorbitanten Preissteigerung führen, ohne dass dabei Mehrwert generiert wird. Und sind wir doch realistisch: Wer kann die Wahrheit der Dokumente überprüfen. Welcher Ordnungshüter, Händler, Kunde kann z.B. die Geolokationsdaten überprüfen? Wer glaubt einer Angabe, bei der ausgeführt wird, dass eine Gummidichtung einen CO2-Fußabdruck von 0,31 und eine Zellulosedichtung einen Wert von 0,18 hat? Der Frust wächst noch weiter, weil man den Eindruck gewinnt, dass der Sinn der Gesetze und der Verordnungen selbst von denjenigen, die sie verabschieden, nicht verstanden wird. Politiker und Verantwortliche in den Regulierungsgremien sollten dafür Sorge tragen, dass Regularien einen nachvollziehbaren Effekt, z.B. beim Umweltschutz, haben, einen überschaubaren Aufwand verursachen und einfach zu kontrollieren sind. Das Gegenteil ist derzeit der Fall. Und mit dem verlorenen Glaube an den gesunden Menschenverstand und die Selbstregulierungskräfte der Wirtschaft wird Europa im Wettbewerb mit Amerika und Asien abgehängt – ohne Not.

Karl Friedrich Berger, Gesellschafter, ISGATEC GmbH
„Unsere technischen Lösungen werden nicht besser, wenn wir uns die meiste Zeit mit kaum erfüllbaren Regularien beschäftigen.“ Karl Friedrich Berger, Gesellschafter, ISGATEC GmbH

Lösungspartner

Zielgruppen

Einkauf, Instandhaltung, Produktion & Fertigung, Qualitätssicherung, Konstruktion & Entwicklung, Unternehmensleitung, Vertrieb